Die Aufnahme einer großen Zahl von Geflüchteten in Städten und Gemeinden hat auch die innerdeutsche Diskussion darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört, zugespitzt. Von den Geflüchteten können allerdings neue Impulse für den interkulturellen Dialog ausgehen. Darüber und über islamischen Religionsunterricht, die Attraktivität des Salafismus und Gelassenheit im Kopftuchstreit sprachen wir mit Mouhanad Khorchide, Professor für islamische Religionspädagogik am Zentrum für islamische Theologie (ZIT) an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.
Ein Schwerpunkt des kommunalpolitischen Bundeskongresses ist „Kommunalpolitik in der gespaltenen Gesellschaft“. Religion ist ein Identifikationspol für viele Menschen. Sie lehren islamische Theologie und bilden Religionslehrer/innen aus. Wie sieht in wenigen Sätzen Ihre liberale, humanistische Auffassung des Islam aus?
Der Islam ist keineswegs eine Art Gesetzesreligion, in der es lediglich um die Erfüllung von Instruktionen geht, sondern es geht einerseits um die Beziehung zwischen Gott und Mensch, die auf Liebe und Vertrauen basiert, und andererseits um ethische Prinzipien, die den Menschen an seine Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen erinnern wollen.
Ich verstehe den Islam als Medium, das dem Menschen ermöglicht, seine Spiritualität als Teil seiner Selbstbestimmung als spirituelles Wesen zu entfalten - als spirituelles Wesen das Sehnsucht nach der unbedingten Liebe hat, die im Islam wie im Christentum als die göttliche Liebe aufgefasst wird. Der Islam, verstanden als spirituelle Religion, macht dem Menschen ein Angebot, diese Sehnsucht zu erfüllen. Daher sehe ich im Gebot der Nächstenliebe, die Ausdruck der Liebe zwischen Gott und Mensch ist, den höchsten religiösen Wert, zu dem der Islam einlädt. Es ist der Mensch, um den es in der Religion geht.
Ich lehne daher den politischen Islam ab, der versucht, im Islam ein juristisches Schema zu sehen, das möglichst alle Lebensbereiche erfassen und regulieren will. Der politische Islam tut dies, um seine Machtansprüche religiös zu legitimieren. Der Mensch ist allerdings keine Marionette, Gott hat ihn vielmehr mit Würde, Freiheit und Vernunft ausgestattet. Er ist ein mündiges Wesen, das sich selbst bestimmt.
Der Islam, verstanden als Gesetzesreligion, will hingegen den Menschen bevormunden; er versteht zum Beispiel den Koran als Gesetzesbuch, das Instruktionen beinhaltet, die die Menschen unhinterfragt und unabhängig vom jeweiligen historischen Kontext einhalten müssen. Sei es die Rede von Körperstrafen oder von einer bestimmten patriarchalischen Vorstellung der Geschlechterrollen, alles wird wortwörtlich genommen. Nach diesem Verständnis geht es um Unterwerfung, um Kontrolle, um blinden Gehorsam. Der Islam, wie ich ihn verstehe, ist eine in Freiheit stattfindende Hingabe an Gott, im Sinne, sein Leben auf die göttliche Liebe und Barmherzigkeit auszurichten. Dies hat nichts mit Unterwerfung und Bevormundung zu tun.
„Muslim sein in Deutschland“ heißt Ihr jüngstes Buch. Es ist ein deutsch-arabisches Buch, das auch eine Handreichung für Geflüchtete ist. Sie stellen dort u. a. fest, dass viele Menschen Angst vor Muslimen haben. Warum ist das so?
In der Tat haben viele Menschen in Europa Angst vor dem Islam, weil dieser hauptsächlich mit Terror, mit Benachteiligung von Frauen, mit menschenverachtenden Aspekten usw. assoziiert wird. Das sind die Bilder, die unser Verständnis vom Islam prägen. Dass die absolute Mehrheit der Muslime ein normales friedliches Leben führt, fällt nicht auf, darüber wird auch in den Medien kaum berichtet.
Was hingegen „extrem“ und anders ist, das wird eher wahrgenommen. Leider ist der Extremismus auch laut, daher prägt er unser Islambild. Umso wichtiger ist es, vor allem in der Öffentlichkeit für ein differenziertes Bild über den Islam zu sorgen. Wir benötigen mehr positive Bilder in den Medien. Wir Muslime müssen aber auch mehr Selbstkritik üben und einsehen, dass es Dinge gibt, die wir verändern müssen. Wenn wir zum Beispiel mehr Religionsfreiheit für die Muslime in Europa und in nichtislamischen Gesellschaften fordern, dann müssen wir dies als Haltung der Religionsfreiheit tun und entsprechend auch für die Religionsfreiheit der Nichtmuslime in den islamischen Ländern eintreten und diese mit Nachdruck fordern.
Sehr oft steckt auch eine gewisse Identitätsverunsicherung hinter der Angst vor dem „Anderen“. Denn nur, wenn ich weiß, wer ich bin und wenn ich mir meiner Identität sicher bin, habe ich keine Angst, mich dem Anderen zu öffnen, in ihm das Neue zu begrüßen. Die Begegnung des Islams mit Europa Mitte des 20. Jahrhunderts im Zuge der Arbeitsmigration führte jedoch zu Identitätsverunsicherungen auf beiden Seiten, was oft statt Nähe Distanz hervorrief.
Ressentiments gegenüber Muslimen sorgen für Zulauf bei Rechtspopulisten, zu deren Feindbild der Islam gehört. Was kann aus Ihrer Sicht dem Auseinanderdriften von Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland entgegenwirken?
In Deutschland stellen wir fest, dass die Angst vor dem Islam vor allem dort am stärksten ist, wo kaum Muslime leben. Das heißt dort, wo man sich nicht begegnet, wo man nur übereinander und nicht miteinander redet, dort wächst Angst und Unbehagen vor dem „Anderen“. Wir brauchen daher mehr Räume der Begegnung - geistige wie physische. Und das schon im Bildungssystem, im Kindergarten, in der Schule, in Ausbildungsstätten usw.
Wir müssen die Menschen über die innerislamische Vielfalt aufklären, damit sie sich ein differenziertes Bild vom Islam machen. Denn Muslime wie Nichtmuslime leiden gleichermaßen unter dem Terror im Namen des Islam. Die Grenze verläuft nicht zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, sondern zwischen menschenfreundlichen und menschenfeindlichen Auslegungen verschiedener Weltanschauungen. Auch die Medien tragen eine große Verantwortung, nicht nur von negativen, sondern auch von den vielen positiven Beispielen zu berichten. Dennoch müssen wir die Ängste der Menschen wahrnehmen. Viele AfD-Wähler fühlen sich von der Politik im Stich gelassen und nicht ernst genommen. Auf diese Menschen muss unbedingt eingegangen werden. Meist liegen ihre Ängste woanders und nicht primär beim Islam. Oft sind es existentielle Ängste um die eigene Zukunft.
Eine ernstzunehmende Zahl Jugendlicher, sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund, fühlt sich vom fundamentalistischen Salafismus angezogen. Wer sind diese Jugendlichen? Wie erklären Sie sich diese Anziehung? Können Sie mit der Tätigkeit an Ihrem Lehrstuhl die Jugendlichen überhaupt erreichen? Was muss sonst noch passieren, um positiv auf das Umfeld dieser Szene einzuwirken?
Die Erwartungen vieler Jugendlicher an die europäischen Gesellschaften sind hoch. Hier, wo sie geboren und aufgewachsen sind, wünschen sie sich eine Heimat, die ihnen nicht nur Chancengleichheit im Bildungssektor, am Arbeitsmarkt und am Wohnungsmarkt bietet, sondern auch eine innere Heimat, in der sie sich als anerkannte Menschen entfalten können.
Werden diese Erwartungen nicht erfüllt und haben die Jugendlichen das Gefühl, diskriminiert zu sein, dann kommt es zu verschiedenen Reaktionen. Manche kapseln sich ab, sie gehen zu beiden Systemen – zur Kultur der Eltern und zur Mehrheitsgesellschaft – auf Distanz. In der Literatur werden sie meist als „Marginalisierte“ bezeichnet.
Viele Jugendliche greifen aber auch reaktiv bei der Suche nach einem sicheren „Wir-Gefühl“ auf die Religion zurück. Diese Form der islamischen Identität bezeichne ich als „Schalenidentität“. Schalenmuslime stützen sich auf ausgehöhlte Identitäten. Sowohl die Religion als auch die nationale Herkunft bilden das Reservoir für die Herausbildung von kollektiven Identitäten, derer sich diese Jugendlichen bedienen, wenn die Situation es verlangt. Die Religion bietet ihnen Schutz vor dem „Anderen“. Durch den Islam, der vor allem als Bindeglied zu anderen Migrantenjugendlichen gesehen wird, können sie ein Gefühl der Sicherheit aufbauen.
Für die erste Generation war dies weniger problematisch, da die Erwartungen andere waren. Nun kommt es aber bei Jugendlichen der zweiten Generation zu einer Umwertung: Hier geboren und aufgewachsen, erwarten sie, eine Heimat geboten zu bekommen. Bei Nichterfüllung dieses Anspruchs beginnen die Jugendlichen, kulturelle Gegensätze zu konstruieren beziehungsweise vorhandene Gegensätze zu übertreiben. Gemeinsamkeiten in den Ein- und Vorstellungen, aber auch religiöse Gemeinsamkeiten werden heruntergespielt.
Hier besteht die Gefahr der Instrumentalisierung der Religion, im Sinne einer reaktiven Rückbesinnung, die sich durch das Festhalten an sichtbaren Symbolen äußert, um auf der Basis religiöser Differenz Grenzen zwischen Kollektiven zu ziehen. So entsteht ein Teufelskreis: Das Muslim-Sein wird mit dem „Fremd-Sein“ gleichgesetzt, es wird zu einem Identitätsmerkmal. Die Muslime identifizieren sich damit, die Mehrheitsgesellschaft grenzt sich damit von den Muslimen ab: „Wir und Ihr, die Muslime.“
Viele dieser Jugendlichen finden im salafistischen Angebot, das seinerseits stark polarisierend ist - „Wir, die besseren und die Nichtmuslime, die schlechten“ - die ersehnte Anerkennung und starke Vergemeinschaftung. Sie sind nicht mehr die sozialen Verlierer, sie sind nun mächtig, weil sie in Besitz der absoluten Wahrheit sind und der Allmächtige gehört nun nur ihnen.
Ich setze mich daher stark für den islamischen Religionsunterricht ein, weil wir nur durch diesen den jungen Muslimen einen reflektierten Zugang zu ihrem Glauben verschaffen können. Aber die religiöse Aufklärung alleine reicht nicht, um die Rekrutierung in salafistische Milieus zu verhindern. Wir brauchen starke Jugendarbeit, die die jungen Menschen auffangen kann, aber auch ein Umdenken, wenn es um die Frage nach der Anerkennung von Menschen geht. In unserer Gesellschaft werden Menschen nicht selten über ihre erbrachte Leistung definiert. Aber damit erzeugen wir „soziale Verlierer“, die in dieser starken Leistungsgesellschaft keinen Halt mehr finden und diesen Halt dann in Ideologien suchen, die die Welt in Gut und Böse teilen.
Viele der in den letzten Jahren nach Deutschland Geflüchteten sind Muslime. Sie bringen bereits eine religiöse Praxis und ein eigenes Verständnis des Islam mit. Wie erleben Sie diese Geflüchteten im islamischen Diskurs und in ihrem Verhältnis zur deutschen Gesellschaft? Können von dieser Gruppe ein erneuertes Verständnis vom Islam und neue Impulse für den interkulturellen Dialog ausgehen?
Viele Flüchtlinge aus islamischen Ländern mussten sich die Flucht finanziell leisten können. Viele kommen daher aus besseren sozialen Verhältnissen. Zu mir kommen regelmäßig junge Syrer/innen, die studieren möchten. Sie sagen mir, dass ihre Eltern sie nach Deutschland geschickt haben, um hier zu studieren und irgendwann am Wiederaufbau ihres Landes beteiligt zu sein. Anders als die meisten ehemaligen Gastarbeiter kommen sie nicht aus bildungsfernen Familien. Sie haben daher einen reflektierten Zugang zu ihrem Glauben. Ich will nicht pauschalieren, es gibt immer wieder Ausnahmen, aber ich erlebe die Flüchtlinge aus Syrien als eher aufgeschlossen, mit einem starken Willen, sich zu integrieren. Man sieht dies anhand der vielen jungen Syrer/innen, die inzwischen die deutsche Sprache sehr gut beherrschen.
Viele sind außerdem traumatisiert von dem, was sie vom IS hautnah erlebt haben, und wollen nichts von einem restriktiven Islam wissen. Daher bin ich sehr optimistisch, dass gerade diese jungen Menschen, die ich gerne als unsere neuen Bürgerinnen und Bürger bezeichne, das Bild des Islam in Deutschland positiv prägen werden. Dazu kommt ein wichtiger Aspekt: Anders als viele der Muslime der zweiten und dritten Generation in Deutschland, die viele Enttäuschungen erlebt haben und daher in einen Opferdiskurs geraten sind, fühlen sich die Flüchtlinge hier gut aufgehoben wie in kaum einem islamischen Land. Für sie ist die Gesellschaft eine Heimat und kein Feindbild. Sie sind viel weniger anfällig für einen Opferdiskurs.
Welche Möglichkeiten gibt es für Kommunen, religiösen Extremismus zu bekämpfen? Müssen die Kommunen sich mehr damit auseinandersetzen, was in ihren Moscheen passiert? Sollten Kommunen und öffentliche Einrichtungen generell stärker mit muslimischen Religionsgemeinschaften zusammenarbeiten, und wenn ja, wie?
Kommunen müssen unbedingt stärker mit den Moscheegemeinden zusammenarbeiten. Dadurch erreicht man allerdings nur einen kleinen Bruchteil der Muslime. Studien zeigen, dass immer weniger junge Muslime einen Bezug zu den Moscheegemeinden haben. Das bedeutet, wir müssen die Jugendarbeit der Moscheegemeinden stärken und professioneller gestalten. Dennoch muss die Arbeit der Moscheegemeinden transparenter gemacht werden, denn sie sind Teil der Kommunen. Ein Bewusstsein muss entstehen, dass sowohl die Kommunen als auch die Moscheegemeinden am selben Strang ziehen, um gemeinsam die Gesellschaft konstruktiver zu gestalten.
Die Kommunen müssen darüber hinaus unbedingt stärker mit den muslimischen Akteuren zusammenarbeiten, die ein offenes Islamverständnis vertreten und dadurch die Möglichkeit haben, ein Gegenangebot zum Salafismus zu bieten.
Da aber der Großteil der muslimischen Jugendlichen nicht durch die Moscheen zu erreichen ist, brauchen wir verstärkt Jugendarbeit. Diese muss allerdings von Muslimen und Nichtmuslimen gemeinsam getragen und gestaltet werden. Durch gemeinsame soziale und Sport-Vereine schafft man Räume des fruchtbaren Miteinanders.
Haben Sie darüber hinaus weitere Empfehlungen für Kommunalpolitik und -verwaltung, wie sie dem kulturellen und politischen Auseinanderdriften der Gesellschaft entgegenwirken können?
Ich finde den Ausbau des islamischen Religionsunterrichts sehr wichtig, weil durch ihn, wie gesagt, den jungen Menschen ein reflektierter Zugang zu ihrem Glauben ermöglicht wird, aber auch weil Räume geschaffen werden, wo über andere Religionen und Weltanschauungen reflektiert und wo mit deren Vertretern gesprochen und sich ausgetauscht wird. Es ist auch wichtig, dass die Politik gerade den jungen Muslimen vermittelt: Was dir wichtig ist, dafür haben wir genug Platz in unserer Gesellschaft. Damit meine ich, dass wir konstruierte Probleme durch unnötige Diskussionen um Moscheebauten, Minarette, Kopftücher usw. beiseitelegen müssen.
Dort zum Beispiel, wo junge Menschen in den Schulen oder am Arbeitsplatz in der Pause beten wollen, sollten sie auch die Möglichkeit dazu bekommen. Wer freiwillig ein Kopftuch tragen möchte, sollte dies tun dürfen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Dadurch sorgen wir für Normalität, und so verlieren einige Symbole ihren identitätsstiftenden Charakter und werden weniger interessant. Wenn sich jemand dann seiner Religion zuwendet, dann wegen ihres spirituellen und ethischen Gehalts. Religion wird dann mehr zu Ressource und weniger ein Element der Ab- und Ausgrenzung.
Das Interview führten Didem Ozan (Grüne/Alternative in den Räten NRW) und Sabine Drewes.